Dienstag, 21. Oktober 2014

Schon vergessen? (Folge 2): Richard Kimble - ein Doktor, der die Straßen fegte

Die Silberhochzeit meiner Eltern, vor (fast) auf den Tag genau 47 Jahren, ist für sich genommen kein Ereignis, über das sich ein Blogeintrag lohnen würde. Sie erklärt aber, warum ich an diesen 20. Oktober 1967 noch Erinnerungen habe, obwohl ich mich damals als 12-jähriger Schulbub ganz sicher für andere Dinge begeistern konnte als ausgerechnet für eine Familienfeier.

Ungewöhnlich, und deshalb für mich unvergessen, war nämlich, dass die zuvor ausgesprochenen Einladungen zwar noch freudig angenommen worden waren, dass aber die Gesichter, je näher der Festtag kam, allseits immer länger wurden. An diesem Abend stand eine Sendung auf dem Fernsehprogramm, die im ganzen Lande niemand versäumen wollte. Diesen Umstand hatten meine Eltern, als sie ein Vierteljahrhundert zuvor den Termin ihrer Eheschließung festgelegt hatten, nicht bedacht. Nicht bedenken können, das wurde ihnen fairerweise von allen Gästen zugutegehalten, aber an der misslichen Sachlage änderte das nicht das geringste.

Seit 1965 strahlte das 1. Deutsche Fernsehen die amerikanische Kriminalserie Auf der Flucht aus, deren Hauptfigur, der Arzt Dr. Richard Kimble, wegen Ermordung seiner Ehefrau zum Tode verurteilt worden war, selbstverständlich unschuldig, weswegen die gesamte Fernsehnation ungeteilt an seiner Seite stand. Der tragisch verwitwete Todeskandidat, aus dem Gefängnis entwichen, war auf der Suche nach dem wahren Mörder seiner Frau, um so die Gerechtigkeit im allgemeinen zu retten, und im speziellen - wer mochte es ihm verdenken? - natürlich auch sein eigenes Leben. Dabei war er, wenig verwunderlich und für die Serie namensgebend, ständig auf der Flucht vor der Polizei, die alles daran setzte, ihn wieder einzufangen.

Weil es zu der Zeit nur zwei Sendeanstalten gab - das ZDF hatte auch erst im April 1963 zu senden begonnen -, die beide täglich nur einige Stunden Programm anboten, war die Sehbeteiligung enorm. Wenn eine Folge mit dem gejagten Dr. Kimble im Fernsehen lief, waren die Straßen wie leergefegt, weil ganz (West-) Deutschland in den Wohnzimmern vor der Flimmerkiste saß. Die Serie war also im wahrsten Sinne des Wortes ein Straßenfeger, ein damals geläufiger und heute mit dieser Bedeutung fast vergessener Begriff.

Videorekorder für den Heimgebrauch waren noch unbekannt, und wer in jenen Jahren lauthals von Internet und Online-Mediatheken orakelt hätte, wäre Gefahr gelaufen, ausweglos in einer Klinik zu versauern, umgeben von hohen Mauern und muskulösem Pflegepersonal.

Am 20. Oktober 1967 eine Silberhochzeit zu feiern, war unter dergestalt obwaltenden Umständen keineswegs nur unglücklich, sondern den Gästen schlichtweg nicht zuzumuten, denn nach Jahren der Spannung hatten die Programmzeitschriften für eben dieses Datum die letzte Folge angekündigt, in der alles aufgeklärt und das bedauernswerte Justizopfer Dr. Richard Kimble rehabilitiert werden sollte.

Bereinigt wurde die verzwickte Situation dadurch, dass in einem Nebenraum der Gaststätte, in der gefeiert wurde, eigens ein Fernsehapparat aufgestellt wurde, selbstverständlich nur ein schwarzweißer, weil das Farbfernsehen erst wenige Monate zuvor eingeführt worden war und die Serie ohnehin, wie man sich auszudrücken pflegte, nicht bunt war.

Ob die Feier der Silberhochzeit meiner Eltern das einzige Familientreffen war, das jemals wegen eines Kriminalfilms für etwa eine Stunde unterbrochen werden musste, kann ich nicht beschwören. Vergleichbare Fälle sind mir aber zumindest nicht bekannt geworden.

Deswegen kann ich mich an den 20. Oktober 1967 so genau erinnern. Und wegen dieser Geschichte konnte ich heute auch den Ausdruck Straßenfeger als Bezeichnung für eine Fernsehsendung, die für menschenleere Gegenden sorgte, noch einmal aus der Versenkung hervorkramen. 

© Text: Joachim Hübner 2014 – Alle Rechte vorbehalten.

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